Supply Chain Management für Web 3.0, Meta-Welten und Extended Reality
Virtuelle Realität ist längst nichts Neues, aber ihr Potenzial wird gerade erst erkannt. Über 40 Jahre nach der Prägung des Begriffs „Cyberspace“ kommt mit dem Metaverse jetzt eine neue Art von digitalen Welten auf. Diese werden es schon bald ermöglichen, mit Menschen, Orten und Produkten auf nie dagewesene Weise zu interagieren. Früher oder später wird das Metaverse für alle Aspekte des Lebens genutzt werden – von Gesundheitsversorgung über Bildung bis hin zu Unterhaltung und Konsum.
B2C-Kunden tauchen schon jetzt ins Metaverse ab
Internet und Smartphone haben die Welt auf zuvor unvorstellbare Art verändert. Aus unternehmerischer Perspektive ist die überall verfügbare Vernetzung lukrativ: Als zentralisiertes Medium hat der E-Commerce ganze Branchen beflügelt und das Geschäft kräftig angekurbelt. Für das Metaverse sagen Marktbeobachter*innen noch drastischere Auswirkungen voraus. Maßgeblich getrieben von der Blockchain-Technologie soll die virtuelle Umgebung zudem einen viel stärkeren Fokus auf Dezentralisierung und Individualität legen. Doch was genau steckt hinter dem Begriff Metaverse?
Drei Eigenschaften zeichnen das virtuelle Universum aus:
- Als digitaler Raum vereint das Metaverse virtuelle, erweiterte und physische Realitäten in sich. Zukünftig wird es weit über die bis dato bekannten Virtual und Augmented Reality-Technologien (VR & AR) hinausgehen und das Potenzial haben, die heutige Form des Internets abzulösen.
- Metaverse-Welten (M-Welten) erreichen dank ihrer Rechenleistung und der massenhaften Verfügbarkeit von mobilen und stationären Endgeräten Hunderte von Millionen aktiver Nutzer*innen, wie vor allem Spieleplattformen und Onlinecommunities wie Fortnite oder Roblox zeigen.
- Im Metaverse spielen virtuelle Vermögenswerte als Kauf- und Tauschobjekte eine entscheidende Rolle. Die Transaktionen finden Token-basiert und dezentral auf einer Blockchain statt.
Die Onlinecommunity Fortnite erreichte 2020 einen Umsatz von über 5 Mrd. US-Dollar. Die weitere Entwicklung des gesamten Marktes ist nicht exakt zu beziffern, doch Expert*innen rechnen mit einem Marktvolumen von 250 bis 400 Mrd. US-Dollar – allein bis 2025. Umsätze dieser Größenordnung werden jedoch nicht nur von Spielen und Communities generiert. Vielmehr ist zu erwarten, dass virtuelle Shoppingerfahrungen im Allgemeinen künftig eine bedeutende Rolle spielen werden.
Für B2C-Unternehmen ermöglicht das Metaverse neue Formen der Geschäftsanbahnung und Nutzer*innenerlebnisse, welche die physische und die virtuelle Welt verbinden. Die Unternehmen müssen sich auf innovative individuelle Serviceangebote und Produktwelten vorbereiten, für die Einzelfertigung eine Selbstverständlichkeit sein wird.
Virtuelle Welten verändern das Konsumverhalten
Bei einer größeren Anschaffung besuchen Verbraucher*innen mit Kaufinteresse heute typischerweise mehrere Geschäfte und Websites, vergleichen Marken und Modelle anhand von Beschreibungen, Fotos oder Videos und gelangen letztlich zu einer Kaufentscheidung. Im Metaverse findet dieses Erlebnis in einer einzigen virtuellen, immersiven 3D-Welt statt: Kund*innen besuchen digitale Geschäfte, werden von Avataren bedient, hinter denen Mitarbeiter*innen oder Chatbots mit künstlicher Intelligenz stehen, und können Modelle täuschend echt ausprobieren und mit ihnen interagieren.
Dieses Verschmelzen von realer und virtueller Welt hat weitreichende Auswirkungen auf Verbraucher*innengewohnheiten – und damit langfristig auch auf die Lieferketten.
Seit der industriellen Revolution folgte die Produktion der Ägide der Standardisierung, die Henry Ford schon zu Beginn der Fließbandproduktion auf den Punkt gebracht hat: „Sie können einen Ford in jeder Farbe haben, Hauptsache, er ist schwarz.“ Das Supply Chain Management hat sich über Jahrzehnte hinweg auf die Economies-of-Scale ausgerichtet.
Technologische Weiterentwicklung, veränderte Verbraucher*innenerwartungen und die digitale Transformation haben den Trend in den vergangenen Jahren jedoch in die andere Richtung gekehrt. Additive Fertigungsverfahren erlauben die Herstellung einzigartiger Produkte, die hinsichtlich Qualität und Preis ebenbürtig mit Massenware oder dieser sogar überlegen sind. Ob Produktion, Logistik oder Einkauf: Die Gestaltung der Lieferketten muss sich auf diesen Wandel einstellen.
Zukunftsfähiges Supply Chain Management für zukünftige Welten
Wenn Lieferketten traditionell für den Kauf, die Herstellung, die Lagerung und den Transport physischer Produkte aufgebaut wurden, stellt sich die Frage, ob der Übergang zu einer umfassend digitalen Welt die Bedeutung von Lieferketten verringern, aufwerten oder neu definieren wird.
Die gute Nachricht für Supply Chain Manager: Perspektivisch kann von einer weiter steigenden Bedeutung des SCM ausgegangen werden. Dafür sprechen etwa verkürzte Produktlebenszyklen durch die Simulation von Produkten und Herstellprozessen sowie kollaborative Designprozesse. Ganz allgemein wird das Web 3.0 Kund*innen und ihre Wünsche so sehr, wie nie mit Unternehmen und ihren Angeboten zusammenbringen. Und durch die Möglichkeiten des Metaverse, reale Welten virtuell überall zugänglich zu machen, erhalten Kund*innen mehr Transparenz über Rohstoffe, Sourcing und Produktion von Waren.
Das Metaverse wird kaum einen Bereich von Unternehmen unberührt lassen. Auswirkungen werden sich von der Produktion über den Einkauf bis hin zu Lager und Logistik zeigen:
- Produktion: Der 3D-Druck und virtuelle Tools werden durch das Metaverse auch für Endverbraucher*innen zugänglich, und zu einer Explosion von Kreativitäts- und Designprozessen führen. Nach dem Zeitalter des E-Commerce wird das Metaverse den grundlegenden Trend zur Individualisierung beschleunigen. Die Anforderungen fordern ein radikales Umdenken von Standard- zu Auftragsfertigung (Make-to-Order) mit geringsten Losgrößen.
Dafür bietet das Web 3.0 umfassende Möglichkeiten in der Supply Chain & Produktion. Produkte, Herstellprozesse und Produktionsanlagen lassen sich digital simulieren sowie die Bedienung und Schulung in immersiven Räumen praktizieren. Auf diese Weise lassen sich Fehler und Ausfallzeiten reduzieren und die Prozessoptimierung wird vereinfacht und beschleunigt. Diese Faktoren werden sich über sämtliche Industrien erstrecken und Kosteneffekte über alle Wertschöpfungsstufen haben.
- Einkauf: Sowohl Unternehmen als auch Privatkund*innen wünschen sich Transparenz über Nachhaltigkeitsaspekte in den Lieferketten, wie beispielsweise durch das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz. Der Einkauf ist hier in einer führenden Rolle diese Informationen und Transparenz bereitzustellen. Virtuelle Lieferantenaudits sowie digitale Qualitätsprozesse gehören in der neuen Web 3.0 Welt zum Standard. Zudem lassen sich über digitale Zwillinge Lagerbestände von Lieferant*innen in Echtzeit prüfen und Bedarfe abrufen. Auch Preisverhandlungen zwischen Käufer*innen und Verkäufer*innen werden sich transparent und effektiv gestalten lassen. Von virtuellen Auktionen bis zu transparenteren und umfassenderen Spotpreis-Märkten wird sich der klassische Einkauf komplett verändern. In der vollendenden Ausbaustufe wird der Einkauf in seiner Funktion entlastet und kann, nach erfolgreicher Transparenz der Lieferkette, einer überwachenden Funktion nachkommen.
- Logistik und Lager: Die Leistungsfähigkeit der virtuellen Welt können Lieferkettenverantwortliche auch für ihre eigenen Prozesse nutzen. Das Web 3.0 wird zu standortübergreifenden besseren und effizienteren Lagerkonzepten durch maximale Transparenz und virtuelle dynamische Simulationen von Szenarien. Vom Lagerverantwortlichen über Mitarbeiter*innen bis hin zu der ESG- und der Nachhaltigkeitsabteilung können sich alle Stakeholder an der Gestaltung der Logistik beteiligen und die Lagerplanung dynamisch mitgestalten. Der Trend der Individualisierung wird Raum- und Regaloptimierungen fordern, um auch bei wachsenden SKUs die Lieferfähigkeit zu sichern. Das Web 3.0 wird tief in die Logistik eingreifen und insbesondere aus Kostengründen den Aufbau von Mikro-Fulfillment-Zentren fordern. Auch in diesem Bereich bietet die Möglichkeit der Simulation Kostenvorteile, da neue Ideen und Konzepte virtuell erprobt werden können, bevor sie umgesetzt werden.
Die Vorbereitung jetzt starten, um Chancen zu nutzen
Individueller, schneller, flexibler, kollaborativer: Die Versprechen des Metaverse sind umfassend und weitreichend. Auch das Supply Chain Management wird sich angesichts von mehr und mehr M-Welten auf tiefgreifende Veränderungen einstellen müssen. Dabei müssen Stakeholder längst nicht nur Herausforderungen befürchten. Letztlich ergibt sich die Chance einer mehrstufigen, bedarfsorientierten, flexiblen und ökosystemübergreifenden Lieferkette, die mit Multimaterial-3D-Drucktechnologie und dem Vertrieb einhergeht und auf die einfache und schnelle Produktanpassung im Metaverse ausgerichtet ist.
Wie Onlineshopping vor dem Siegeszug des Worldwide Web kaum vorstellbar war, so ist heute die alltägliche Nutzung des Metaverse durch Milliarden Menschen noch eine Zukunftsvision. Wahrscheinlich ist jedoch, dass es schon in wenigen Jahren immer üblicher sein wird, aus der realen Umgebung in virtuelle Welten einzutreten – selbst um alltägliche Aktivitäten wie Einkäufe und Meetings zu erledigen.
Reibungslose Übergänge in den Lieferketten werden nötig sein, um die bedarfsgerechte Produktabwicklung und die intelligente, lokale Fertigung zu ermöglichen, damit personalisierte Produkte nach individuellen Anforderungen hergestellt werden können. Stakeholder aus dem Supply Chain Management sollten jetzt damit starten, sich auf den Wandel vorzubereiten, dem die Lieferkette sich unterziehen muss. Andernfalls riskieren sie, dass ihr Unternehmen im internationalen Markt früher oder später den Anschluss verliert.