So mischt KI die Pharmabranche auf

KI kann helfen, schneller zu besseren Arzneimitteln zu kommen. Das machen Merck, Wacker Chemie, die LMU München und die HU Berlin.

24. September 2024

6 Min. Lesezeit

Wissenschaftlerin experimentiert im Labor mit Chemikalien

In der Pharmazie durchforstet KI umfangreiche Datenmengen, entdeckt neue Arzneimittel und sorgt dafür, dass Produkte ihre Zielgruppen schneller erreichen. Neue Milliardenmärkte entstehen.

Manche Entwicklungen sind schneller da, als erwartet. „Die Frage ist nicht, ob KI einen wesentlichen Einfluss auf Industrieunternehmen haben wird, sondern, wie schnell das geschieht“, sagt Dirk Elvermann, Chief Digital Officer bei BASF. Allerdings könne das enorme Potenzial von künstlicher Intelligenz von den Unternehmen noch nicht genau abgeschätzt werden.

„KI steigert die Produktivität enorm“, stimmt Walid Mehanna zu, Chief Data & AI Officer bei Merck. „Sie kann uns dabei helfen, neue und wirksamere Arzneimittel schneller für unsere Patienten verfügbar zu machen – und die Entwicklung und Lieferung besserer Materialien für unsere Kunden zu beschleunigen“.

Hohe Erwartungen an zukünftige Milliardenumsätze

Merck erhofft sich von Künstlicher Intelligenz den Vorstoß in einen neuen Milliardenmarkt. Allein die Entdeckung von Arzneimitteln bietet ein breites Feld für die Einführung Dutzender neuer Medikamente und den Aufbau eines Marktes im Wert von 50 Milliarden US-Dollar in den kommenden zehn Jahren – so die Prognose der Chemieexperten.

Gelingen soll dies bei Merck dadurch, indem die Entdeckung und Entwicklung von neuen Arzneimitteln deutlich schneller und billiger abläuft. Mithilfe von KI und Automatisierung könnte sich der Zeitaufwand von bisher etwa zwölf Jahren auf weniger als vier Jahre verringert. Zum Vergleich: Der Prozess, neue Arzneimittel auf den Markt zu bringen, dauert nach Angaben Mehannas oft zehn bis 15 Jahre. Die Kosten dafür betragen pro Medikament bis zu 2 Milliarden US-Dollar.

KI – bei der Molekülsuche den richtigen Riecher

Besonders im Entdeckungs- und Entwicklungsprozess von Arzneimitteln kommen die Stärken von KI zum Tragen. So könnte nach Schätzung des Merck-Managers Mehanna die Technologie den Zeitaufwand zur Identifizierung von geeigneten Zielobjekten für Arzneimittel um mehr als 70 Prozent verkürzen. Beispielsweise erkennt eine KI-gestützte Plattform in der medizinischen Chemie das am besten geeignete Molekül um Längen schneller, als das menschliche Forscher leisten können. Ein weiterer Einsatzbereich sind KI-gestützte Tools zur Beschleunigung der chemischen Synthese. Damit lässt sich einer der am längsten dauernden Schritte bei der Entwicklung von Arzneimitteln deutlich beschleunigen. Und schließlich sorgt KI in der Serienfertigung eines Arzneimittels für eine deutliche Rationalisierung und Optimierung der involvierten Prozessen. Patienten kommen dadurch schneller an dringend benötigte Medikamente.

Vorteile wie Effizienz steigern, Wachstumschancen und neue Geschäftsmodelle erschließen will auch Covestro mit seinen hauseigenen KI-Pilotprojekten erreichen. Das Chemieunternehmen hat sich auf Anwendungen in der Produktion konzentriert, etwa bei der Polyester-Herstellung in Dormagen. Die KI erkennt dort in einem ständigen Abgleich Verbesserungen an Produktionsparametern wie Druck, Temperatur und der Dosierungsgeschwindigkeit. Das Ergebnis: Selbst kleine Änderungen bewirken, dass in den Anlagen bei unverändertem Energieeinsatz deutlich höhere Mengen produziert werden können.

Erfolgreiches Tandem: KI und Robotik

Ein weiteres anspruchsvolles KI-Projekt betreiben die IBM-Labore in Zürich. Dort übernimmt ein Tandem aus KI und Robotik die manuelle Laborarbeit und kognitive Leistungen. Dafür nimmt sich eine cloudbasierte KI retrosynthetische Analysen vor – also das Planen einer chemischen Synthese von komplexen organischen Molekülen – um mögliche Synthesewege für die gewünschten Moleküle zu ermitteln. Die beste Syntheseoption wird danach in einen vollautomatisierten Prozess eingespeist.

Die Einbindung von KI in die chemische Synthese funktioniert über zwei Schritte: die retrosynthetische Analyse und die Umsetzung der Synthese. Im ersten Schritt zerlegt das KI-Modell die chemische Struktur in atomare Sätze. Diese bilden die Basis, für die das zweite KI-Modell konkrete Synthese-Anweisungen vorlegt. Das Ergebnis ist ein Prozess, der die Unbeständigkeit menschlicher Anleitungen überwindet und zu einem standardisierten, effizienten Syntheseprozess führt.

KI legt retrosynthetische Vorhersagen vor, die Roboter dann praktisch umsetzen. Beide müssen Hand in Hand arbeiten. Bereits zu Beginn erreichten die Vorhersagen eine Genauigkeit von etwa 61 Prozent. Mit strategischen Anpassungen und einer größeren Datenmenge aus gescreenten Patenten verbessern sich die Übereinstimmungsraten ständig. Ziel ist, auf menschliche Korrekturen zu verzichten, was bereits bei kleineren Molekülen und kürzeren Synthesewegen erreicht wurde. Das bedeutet: Mit KI sind Chemiker in der Lage, Synthesen zu planen und Substanzen herzustellen – ohne, dass sie selbst im Labor anwesend sein müssen.

Schneller Weg zu RNA-Arzneimitteln

Bei Wacker Chemie soll mit KI eine neue Generation von Lipid-Nanopartikeln (LNPs) entstehen, einem wichtigen Bestandteil von Arzneimitteln auf Basis von RNA (Ribonukleinsäure). Das Unternehmen betreibt noch bis 2026 ein Projekt zusammen mit Partnern aus Pharmabranche und Wissenschaft, um die Entwicklung von RNA-basierten Arzneimitteln zu beschleunigen. Auf Basis dieser Formulierungen soll ein Machine-Learning-Algorithmus trainiert werden, der automatisiert die idealen Bestandteile für eine neue RNA-Formulierung identifiziert – bislang ein besonders zeit- und kostenintensiver Entwicklungsschritt.

Ihre Bekanntheit verdanken RNA-Produkte den COVID-19-Impfstoffen. Arzneimittel, die RNA als Wirkstoff enthalten, bieten für die Forschung großes medizinisches Potenzial. Bei der Entwicklung geht es nicht um nur Impfstoffe gegen Infektionskrankheiten, sondern auch um Therapien gegen Krebs und Erbkrankheiten.

Wacker, CordenPharma, die LMU und die HU Berlin wollen die Entwicklung von RNA-basierten Arzneimitteln beschleunigen. Um dies zu erreichen, entwickeln die Partner eine neue Generation von Lipid-Nanopartikeln (LNPs) sowie ein Machine-Learning-System für die RNA-Formulierung, das die Entwicklungszeit verkürzen und die Kosten senken soll.

Mehr Tempo bei der Produktentwicklung

Bei der Entdeckung und Bereitstellung neuartiger Medikamenten setzt auch das Pharmaunternehmen Merck auf KI. Zudem soll KI in allen F&E-Prozessen eine Rolle spielen – von der Identifizierung von Zielmolekülen bis hin zu klinischen Studien und dem Management des Produktlebenszyklus. Zudem soll sich die Produktentwicklung verbessern. Unterstützt wird diese Strategie der KI durch zwei strategische Kooperationen in der Arzneimittelforschung. Zusammen mit den britischen KI-Technologieunternehmen BenevolentAI und Exscientia sollen mehrere neuartige Arzneimittelkandidaten in der Onkologie, Neurologie und Immunologie entstehen

„Mit der Konvergenz von Wissenschaft, Daten und KI wollen wir die Entwicklung neuer und innovativer Kandidaten beschleunigen und einen Weg zu bisher unvorstellbaren medizinischen Durchbrüchen zu ebnen“, fasst Danny Bar-Zohar zusammen, Global Head of Research & Development und Chief Medical Officer für den Unternehmensbereich Healthcare von Merck.

KI sorgt dafür, dass die Chemie stimmt

Von der schnelleren Entdeckung neuer Medikamente bis hin zur Optimierung von Reaktionsbedingungen bietet KI die Chance, Zeit, Ressourcen und menschliches Potenzial auf bisher nicht vorstellbare Weise zu skalieren.

Transformation: Die Wissenschaft der Chemie, mit ihrer unendlichen Vielfalt an Substanzen und Reaktionswegen, steht vor einer weitreichenden Veränderung. Diese Transformation wird angeschoben durch die sich verbessernden Fähigkeiten der KI, die Grenzen menschlicher Forschung zu überschreiten und neu zu definieren.

KI forscht selbstständig: KI-Systeme, die bisher als Hilfsmittel zur Datenanalyse dienten, sind mittlerweile dazu fähig, in Eigenregie Experimente zu planen und auszuführen.

Roboterchemiker: KI in die Chemie greift über automatisierte Labortätigkeiten hinaus. Mit ihrer Hilfe lassen sich Software-Roboter als autonome Chemiker entwickeln, die durch maschinelles Lernen und komplexe Algorithmen agieren. Diese Maschinen können sich in die Rolle von Forschern begeben, chemische Synthesen konzipieren sowie innovative Verfahren entwickeln, die über das hinauswiesen, was menschlichen Experten bisher vorbehalten war.

Wirtschaftlicher Wandel: Die KI-gesteuerten Systeme verbessern in der chemischen und pharmazeutischen Industrie die Forschungseffizienz. Zudem ist KI ein Wirtschaftsfaktor, der die Branche  fundamental verändern wird.

(Quelle: Joqora, eigene Recherchen)