In der schnelllebigen Fashionbranche bahnen sich weitreichende neue Entwicklungen an. „Es ist tatsächlich so, dass wir uns gerade inmitten einer Wissensrevolution befinden, was die Modebranche betrifft“, beobachtet Prof. Ingo Rollwagen von der AMD Akademie Mode & Design, Berlin. Der Branchenexperte erkennt eine tiefgreifende Veränderung. Sie umfasst so gut wie alle Bereiche vom Design über die Kollektionsentwicklung, Beschaffung und Fertigung der Kleidung bis hin zu Marketing, Vertrieb und dem Kauf von Kleidung durch den elektronischen Handel – „die teilweise alle durch KI beeinflusst werden.“
Besonders auffällig sind die KI-Innovationen in den Werbeauftritten der Unternehmen. Das spanische Modeunternehmen Mango machte mit einer bemerkungswerten Kampagne für seine Sommermode auf sich aufmerksam. Die vorgeführte Bekleidung war echt, aber das Model eine KI-Kreation – und die digitale Abbildung ließ sich kaum von einer realen Person unterscheiden.
Solche KI-generierten Animationen für Werbekampagnen stehen in Wettbewerb zu menschlichen Darstellern. Virtuelle und echte Abbildungen sehen sich zum Verwechseln ähnlich. Die künstlich erzeugten Figuren seien eindeutig realitätsnah, geben etwa zwei Drittel der Befragten zu, wie eine Studie des Marktforschungsinstituts Appinio ergab. Das zeigt den Grad der Perfektion der KI-Artefakte.
Die digitale Überraschung machen sich die Kreativen für ihr Business zunutze. In den Geschäften des Modekonzerns Zalando ist seit Oktober 2024 ein KI-gestützter Fashion Assistent aktiv. Die Technik setzt dafür auf firmeneigenen sowie den Sprachmodellen von OpenAI auf. Vorerst allerdings müssen sich die Kunden mit einem Probelauf des KI-Assistenten in der Beta-Version in den 25 Märkten des Unternehmens von Deutschland bis Rumänien zufriedengeben.
Immerhin ist eine personalisierte Modeberatung in den Landessprachen möglich. Zudem können Kundinnen und Kunden intuitiv durch das Sortiment navigieren. Das raffinierte Konzept: Der KI-Assistent versteht den Kontext – wie Ort, Wetter und Anlass – und kann durch passende Empfehlungen weiterhelfen. Beantwortet werden damit Kundenanfragen wie beispielsweise: „Was soll ich zum 50. Geburtstag meines Vaters im Dezember in Venedig anziehen?“
Individuelle Verkaufsberatung durch KI
Die KI-Chatbots von Zalando gehen auf Kundenfragen ein, nehmen den Bestellstatus unter die Lupe oder bieten sogar eine individuelle Beratung an. Durch ständiges Lernen soll sich die Reaktionsfähigkeit und Kompetenz der Bots verbessern, mit dem Ziel, im Laufe der Zeit immer anspruchsvollere Anfragen beantworten zu können.
„Wir wollen es unseren Kunden erleichtern, Mode zu entdecken, die zu ihrem Stil und individuellen Bedürfnissen passt”, so Tian Su, Vice President Personalisation and Recommendation bei Zalando.
Schnitt nach Kundenwunsch
Branchengrößen wie die schwedische H&M Gruppe beschäftigen sich mit KI-gestützten Konzepten, bei denen die Kunden auch selbst Hand anlegen können. So bietet die Textildruck-Plattform Creator Studio ein neues Text-zu-Bild-Tool für bedarfsgesteuerte Produkte an, das auf künstlicher Intelligenz basiert. Die KI-generierten visuellen Werke entstehen auf Maßgabe von Prompts, den Texteingaben der Nutzenden. Die Designvorschläge des Tools schöpfen aus vordefinierten Stilen, die es den Kunden ermöglichen, etwa für Hoodies oder T-Shirts Motive und Schnitte in wenigen Sekunden selbst zu entwerfen.
Anschließend lassen sich die Kleidungsstücke mit den benutzerdefinierten visuellen Grafiken in einer Vielzahl von Stilen bedrucken und können sofort bestellt werden.
„Wir suchen nach neuen Wegen, um die Hindernisse für unsere Kunden bei der Kreation von Inhalten zu verringern. Die nahtlose Integration eines Tools zur Erstellung von KI-Grafiken ist für uns ein natürlicher Schritt auf dieser Reise“, sagt Dinesh Nayar, Geschäftsführer des Creator Studios bei der H&M Group.
Auch professionelle Designer sollen sich des KI-Hilfsmittels bedienen. Die Technologie von Creator Studio will neben den Konsumenten auch für Künstler, Labels und Lizenznehmer eine End-to-End-Lösung für maßgeschneiderte Kleidung bieten. Ziel ist für H&M, den Handel nachhaltiger und kostengünstiger zu gestalten.
Anprobe mit digitaler Bekleidung
Ein weiterer Anwendungsbereich der künstlichen Intelligenz zielt darauf ab, das Einkaufserlebnis zu vereinfachen und die Kundenzufriedenheit durch neue Services zu steigern. Besonders beliebt sind bereits seit Jahren Lösungen für virtuelle Anproben. Nun eröffnet die künstliche Intelligenz weitere Möglichkeiten, die sich durch Augmented Reality – der digitalen Beigabe von virtuellen Elementen in reale Abbildungen – ergeben. So lassen sich beispielsweise bei H&M persönliche Avatare mit den eigenen Körpermaßen erstellen, mit denen Kunden in „digitalen Anproberäumen“ die aktuelle Kollektion ausprobieren können.
Die virtuelle Anprobe unterstützt Kunden bei der Kaufentscheidung und soll auch die Rücksendungen bei online bestellten Artikeln verringern. Denn die Retouren von Waren sind ein hoher Kostenfaktor für Modeunternehmen. Das gilt besonders für Bestellungen über Kanäle wie den Onlineversand. Nach einer Studie des Kölner EHI Retail Institute GmbH zum „Versand- und Retourenmanagement im E-Commerce“ werden die bei einer Rücksendung entstehenden Versandkosten in zwei Drittel der Fälle vom Händler übernommen. Weitere Ausgaben fallen für die Bearbeitung an. Die durchschnittlichen Kosten für den Händler pro retourniertem Artikel liegen laut EHI zwischen fünf und zehn Euro.
Wirtschaftlicher produzieren durch KI
Auch bei Massenartikeln bekommen Fashion-Anbieter ihre Überproduktionen und Retouren besser in den Griff – durch den Einsatz von KI. Der Kölner Modehersteller Armedangels setzt die Decision-Intelligence-Plattform des Heidelberger Softwareanbieters Paretos ein. Die frühzeitige Identifikation von Top- und Slowseller ermöglicht eine bessere Planung der Bestellungen. Auf diese Weise lassen sich Retouren, Out-of-Stocks und Überbestände deutlich verringern. Nach Angaben von Paretos konnten bestehende Kunden mit der KI-Technologie ihre Prognosegenauigkeit um 30 bis 80 Prozent verbessern.
Durch eine präzise Nachfrageprognose bietet KI-gesteuerte Software eine Bedarfs- und Produktionsplanung an, die auf die Bedürfnisse von Verbrauchern abgestimmt ist. Die Grundlage dieser Daten sind Analysen, die Nuancen von Farben und Größen berücksichtigen und so die Nachfrage auf Artikelbasis prognostizieren. So lassen sich Produkte mit geringerem Absatz frühzeitig identifizieren und bessere Entscheidungen über die am Markt nachgefragten Produkte treffen.
„Durch die Bestellempfehlungen der KI haben wir das Potenzial, die Überproduktion bei Armedangels jährlich um mehr als 40.000 Teile zu reduzieren“, freut sich Martin Höfeler, CEO von Armedangels.
Algorithmische Innovationen
Neben den für die Unternehmen wichtigen Kostenaspekten eröffnet KI völlig neue Perspektiven, wie Prof. Ingo Rollwagen von der AMD Akademie Mode & Design, Berlin, beobachtet hat. „Algorithmische Innovationen können zeigen, welches Material eine bessere nachhaltige Wirkung hat und gleichzeitig noch kostensensitiv ist. Das Gleiche passiert auch bei Kollektionsentwicklungen, denn dort wird in wachsendem Maße automatisierte Datenverarbeitung eingesetzt.“ Den Anschub dafür liefert die Auswertung der bisherigen Käufe und Orientierungen der Kunden durch den Einsatz von KI.
KI-Innovationen haben Folgen für die gesamte Branche, wie der Experte prognostiziert. Nach Rollwagens Überzeugung werden „in Zukunft sehr viel mehr neue Materialien ins Design einfließen, da die Designer auf Basis von KI auch mehr Wissen über neue Materialien erwerben.“