15. Februar 2021
Ein exzellentes Supply Chain Management und eine reibungslos funktionierende Logistik „just in time“ sind für Unternehmen direkt umsatzrelevant. Unter den erschwerten Bedingungen von Corona haben sich in vielen Organisationen jedoch Defizite gezeigt. Was sollten Unternehmen heute tun und wie sieht die Wirtschaftswelt in zehn Jahren aus?
Unser Redaktionsteam sprach mit Prof. Dr.-Ing. Johannes Fottner, Inhaber des Lehrstuhls für Fördertechnik Materialfluss Logistik an der TU München, und Martin Hofer, Partner und Geschäftsführer von valantic. Fottner gilt als einer der führenden Wissenschaftler seines Fachgebietes, Hofer als „alter Hase“ in der Welt der Supply Chains mit jahrzehntelanger Expertise. Das Urteil beider wird in der Branche sehr geschätzt.
„Automatisierung auf dem Vormarsch! Der Mensch auf dem Rückzug?“
Das ist das Motto des alljährlich stattfindenden Materialfluss-Kongresses, der in diesem Jahr am 18. März zum ersten Mal virtuell ausgetragen wird.
Herr Professor Fottner, herzlich willkommen. Gehen wir gleich in medias res und starten mit konkreten Beispielen. Fahrerlose Transportfahrzeuge, die autonom unterwegs sind, und Mensch-Roboter-Kollaboration in den Fabrikhallen wecken Phantasien? Aber wie weit ist die Technologie heute schon?
Hofer: Fahrerlose Transportsysteme – kurz FTS – sind bereits seit fast 50 Jahren im täglichen Einsatz und seit etwa 15 Jahren herrscht ein regelrechter Hype. Der Grad der Autonomie dieser mobilen Roboter ist beachtlich, sofern die Umgebungsbedingungen das zulassen.
Die Zusammenarbeit mit dem Menschen ist da schon ein komplexeres Thema, aber auch hier gibt es große Fortschritte zu verzeichnen. Der Einsatz neuer Sensortechnologien und innovatives Deep Learning zur weiteren Steigerung von Anpassungsfähigkeit und schneller Inbetriebnahme werden zu weiteren signifikanten Fortschritten führen. Bei der Kollaboration müssen noch einige Hürden im Bereich der Mensch-Maschine-Kommunikation überwunden werden, aber auch hier ist in Wissenschaft und Wirtschaft vieles am Laufen. Zusammenfassend lässt sich sagen: In Industriellen Umgebungen ist die Machbarkeit, Flexibilität und Stabilität bereits sehr hoch.
Wie sähe eine gute Mensch-Roboter-Kollaboration aus, wer macht was?
Fottner: Der Kernsatz der Logistik lautet: Es kommt darauf an. Zu glauben, die einfachen Tätigkeiten übernimmt der Roboter und alles Kreative und die steuernden Aufgaben der Mensch, ist meiner Meinung nach nicht der richtige Weg. Zum einen sind viele Aufgaben, die uns Menschen trivial und einfach erscheinen, für Roboter extrem schwer zu bewältigen, und umgekehrt ebenso. Zum anderen darf man nicht vergessen, dass es kein Naturgesetz gibt, das aussagt: Automatisierte Technik ist per se günstiger als menschliche Arbeit.
Der Mensch ist mit tollen Werkzeugen und Sensoren ausgestattet, die man in einigen Einsatzfeldern nur sehr kostenintensiv bei Robotern bereitstellen könnte.
„Meine Empfehlung wäre, eher darauf zu achten, was der Mensch besonders gut und effizient kann und was der Roboter gut könnte. Das wäre eine tolle Aufteilung.“
Auch heute schon gibt das ERP-System oder andere Systeme beim Kommissionieren die Pick-Reihenfolge und den optimalen Weg vor – manchmal steuert eben die Maschine den Menschen. Das ist vollkommen in Ordnung.
Top-Unternehmen wie Amazon betreiben bereits eine weitgehend vollautomatisierte Lagerhaltung? Ist das für jedes Unternehmen und für jede Branche realisierbar?
Hofer: Auch bei Amazon sind bestimmte Lagerbereiche in bestimmten Regionen aus guten Gründen noch nicht vollautomatisiert, weil in diesen Bereichen der Mensch große Vorteile bietet.
Um ihre Frage zu beantworten: Nein, das ist nicht in jeder Branche und auch nicht bei jeder Unternehmensart und -größe realisierbar. Es ist vor allem aber auch gar nicht sinnvoll. Wenn man sich vor Augen hält, dass im Hof der BayWa der Gabelstaplerfahrer gerade noch einen LKW be- oder entladen hat, dann aber derselbe Mitarbeiter einen Kunden berät und danach Bestellungen auslöst, dann ist der Einsatz eines FTS wenig zielführend. Es gibt Bereiche, da wird eine bestimmte Tätigkeit nicht durchgehend, sondern immer mal wieder über kurze Zeiträume ausgeübt. Es offensichtlich, dass hier der Mensch weitgehend alternativlos ist.
Der Mensch wird durch Automatisierungslösungen entlastet? Welche Rolle wird er in Fördertechnik, Materialfluss und Logistik in Zukunft spielen?
Fottner: Er wird eine wichtige Rolle spielen, aber je nach Unternehmensstruktur eben eine andere. In manchen Unternehmen bleibt es noch sehr lange, wie es ist. In anderen kann eine adaptive und flexible automatisierte Technik in einer Vielzahl von Applikationen Vorteile bringen. Mit modernen Technologien – ich möchte hier Beispiele aus der Kommissionierung Verfahren wie Pick-by-Vision oder Pick-by-Voice nennen – wird der Mensch seine Arbeit effektiver, effizienter und vor allem zuverlässiger verrichten können.
Hofer: Termintreue, niedrige Kosten und Bestände, kurze Durchlaufzeiten – bei den grundlegenden Zielen hat sich im Supply Chain Management wenig geändert. Aber die Tools haben sich dramatisch verbessert – gleichzeitig sind jedoch auch die Rahmenbedingungen deutlich komplexer geworden.
„Lieferketten sind heute sehr vielschichtig, international und müssen in der Lage sein, extrem schnell auf Schwankungen volatiler Beschaffungs- und Absatzmärkte reagieren zu können.“
Technologie und Flexibilität haben heute einen ganz anderen Stellenwert als früher.
Mit welchen Effizienzgewinnen und Kostenreduktionen können Unternehmen durch den Einsatz von Automatisierungslösungen rechnen?
Hofer: Auf diese Frage gibt es keine pauschale Antwort. In einigen Bereichen sind Kosteneinsparungen von bis zu 70 Prozent erreichbar, in anderen ist gar keine Einsparung möglich. Manchmal werden Unternehmen auch automatisieren müssen, ohne einen ökonomischen Benefit zu realisieren, einfach weil die Arbeitskräfte fehlen.
Denken wir zehn Jahre in die Zukunft: Wie sieht Logistik 2030, Lagerhaltung 2030 und Materialfluss 2030 dann aus?
Hofer: Vielleicht haben wir dann das Beamen, wie wir es aus den StarTrek-Filmen kennen, und dazu noch eine exakt arbeitende Kristallkugel entwickelt. Glaube ich zwar nicht, aber das würde die Logistik revolutionieren.
Es könnte sein, dass wir der rein ökonomischen Effizienz eine Bewertung des „Total Social Impacts“ oder der Nachhaltigkeit gegenüberstellen. Auch wird das Thema additive Fertigung sowohl bei den Herstellern (OEM) als auch im Zuliefermarkt eine gewisse Veränderung bewirken.
An den Hauptaufgaben der Logistik wird sich im Kern nichts ändern, an den Werkzeugen aber schon. Moderne Methoden der Datenverarbeitung und der über die Grenzen von Unternehmen hinausgehenden Informationsnutzung könnte uns helfen, den Gesamtwirkungsgrad zu steigern.
„Das ist ökonomisch, ökologisch und auch gesellschaftlich ein Mehrwert.“
Hofer: Was sich deutlich weiterentwickelt und teilweise radikal geändert hat, sind die technischen Möglichkeiten, Methoden und Tools. Sie schaffen völlig neue Möglichkeiten und verändern damit die Arbeit der Supply-Chain-Verantwortlichen. Schon heute laufen die Informationen aus weltweiten Lieferketten in Echtzeit in die Systeme ein. Auch über vorgelagerte Prozesse werden wir informiert, weil Systeme von Kunden, Lieferanten und Logistikpartner miteinander vernetzt sind.
Alle beteiligten Mitarbeiter können überall und jederzeit über den gleichen Informationsstand verfügen.
„Unsere Software vermag auch komplexeste Wertschöpfungsketten in all ihren Abhängigkeiten simulieren.“
Das schafft schon heute konkrete Mehrwerte und wird sich noch weiter verbessern.
Der Materialfluss-Kongress 2021, wo diese Themen und Trends diskutiert werden, wird am 18. März zum ersten Mal virtuell stattfinden. Was dürfen wir erwarten?
Hofer: Ein persönliches Branchentreffen zum Austausch zwischen Kolleginnen und Kollegen wird 2021 Corona-bedingt leider nicht möglich sein wird. Wir bieten aber das gewohnte Format der Plenarsitzung mit Christian Jacobi von Agiplan als Moderator und drei Experten in der direkten Diskussion, Vorträge zu verschiedenen aktuellen Themen, die die Logistik beschäftigen. Dabei werden Themen wie „Logistik in der Krise“, „Digital und Logistik 4.0“ sowie „Neue Arbeitswelten“ im Vordergrund stehen. Es wird nicht wie gewohnt zwei Kongresstage in drei unterschiedlichen, parallelen Zügen geben, sondern kompakt und konzentriert einen Tag und einzügig.
Hofer: Ich habe die Ehre und das Vergnügen, zusammen mit Herrn Professor Fottner den Track „Mit IoT den nächsten Schritt in der Logistik gehen“ zu moderieren. Es gibt drei spannende Vorträge: Josef Pilsti von der BMW Motoren GmbH wird über Logistik-Innovationen bei BMW referieren. Dr. Matthias Jöst von der Profibus Nutzerorganisation e.V. spricht über die interoperable und Hersteller-unabhängige Echtzeitortung mit omlox. Den Abschlussvortrag dieses Tracks hält Matthias Wurst von Inform GmbH über „Logistik 4.0: Wenn sich der Lkw den Stapler im Werk selbst bestellt“.
Herr Professor Fottner, Herr Hofer, vielen Dank für das Gespräch.
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